Kapitel 6 Philosophische Selbstpositionierungen – Fazit

In: Im Auftrag der Wahrheit
Author:
Maria Dätwyler
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An drei Beispielen aus dem philosophischen Kanon des 20. Jahrhunderts wurden in diesem Buch Selbstpositionierungsstrategien von Philosophen oder philosophischen Gruppen im Hinblick auf ihre Umgangsweisen mit anderen Disziplinen analysiert. Als Kontrastfolie fungierte der Text Bewußtsein als Verhängnis von Alfred Seidel. Von welcher Position aus, so eine von Seidels unterschwellig traktierten Problematiken, lassen sich andere philosophische Positionen analysieren und möglicherweise kritisieren? Seidels Gedankengänge haben innerphilosophische Dynamiken greifbar gemacht, die von kanonisierten Philosophen nicht erfasst werden: Sie zeigen, dass Philosophen insbesondere dort blinde Flecken generieren, wo sie sich mit der Selbstbegründung der Philosophie im Verhältnis zu anderen wissenschaftlichen Methoden oder Fragestellungen beschäftigen. Seidels Denken ereignet sich sozusagen dort, wo Philosophen aus sicherer Distanz zu denken anfangen und ihren Gegenstand als ein vermeintlich objektiv beobachtbares Gegenüber bestimmen: innerhalb von Krisen, d.h. an den Grenzen, die den philosophischen Diskurs von anderen Diskursen trennen. Wo Seidel die von anderen Wissenschaften ausgelösten philosophieinternen Krisen durchdenkt und – so macht es den Anschein – gleichzeitig existenziell erfährt, werden sie von den untersuchten Philosophen kritisch aufgenommen, objektiviert und mit gezielten Strategien für die Philosophie und Wissenschaft produktiv gemacht. Die Analysen dieses Buches haben gezeigt, dass Philosophen in unterschiedlichen Nuancierungen auf Krisen reagieren, um davon ausgehend philosophische Neupositionierungen und Neubegründungen dessen, was Philosophie sein kann und soll, argumentativ zu erhärten. Husserl nimmt die Gefahr eines Verlustes der Unabhängigkeit des philosophischen Denkens durch die Psychologisierung des Geistes auf, um die Philosophie als Phänomenologie zu erneuern. Der Wiener Kreis geht von der Bedrohung aus, die Philosophie verliere ihren Objektivitätsanspruch aufgrund naturwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche, und aktualisiert die Philosophie als Logik und Sprachanalyse. Die Kritische Theorie nimmt die Angriffe, die Philosophie könne ihre Standpunkte grundsätzlich nicht mehr legitimieren, da das Bewusstsein durch gesellschaftliche Strukturen bestimmt werde, zum Anlass, die Philosophie als Kritik zu erneuern.

Die Analysen der jeweiligen Selbstpositionierung haben sichtbar gemacht, dass die Setzung von bestimmten Prämissen in all diesen Argumentationen konstitutiv ist. Die behandelten Philosophen behaupten ihre eigene Position als richtig und bauen ihre Argumente auf diesen Setzungen auf. Die Singularitätsansprüche, die aus den jeweils neuen analytischen und methodischen Grundlagen resultieren, sind so der Selbstkritik entzogen, und dadurch soll eine erneute Destabilisierung vermieden werden. – Diese Schlussfolgerungen sollen hier noch genauer ausgeführt werden. In einem ersten Schritt werde ich einzelne der herausgearbeiteten Strategien nochmals zusammenfassend darstellen, in einem zweiten Schritt – ausgehend von meiner eigenen Positionierung – ein kurzes Fazit ziehen.

Singularitätsansprüche verteidigen: Selbstbegründungen und singuläre Selbstbehauptungen bedingen sich gegenseitig: So ist die Begründung der Phänomenologie untrennbar mit dem Anspruch verknüpft, diese Philosophie sei der richtige Weg. Die Begründung der Logik als Fundament aller Wissenschaften wiederum ist untrennbar mit dem Anspruch verknüpft, diese Philosophie sei die einzig gültige Philosophie. Und die Begründung der Philosophie als Kritik schließlich ist untrennbar mit dem Anspruch verknüpft, diese Philosophie sei die einzig noch zulässige Form von Philosophie. Kurz: Die Bestimmung davon, was Philosophie ist, und die Begründung einer neuen philosophischen Position bedingen sich gegenseitig. Sowohl Husserl als auch Carnap sowie Horkheimer und Adorno bringen in je unterschiedlicher Weise Argumente dafür an, weshalb ihre eigene Neudefinition die einzig (noch) mögliche Art und Weise wäre, Philosophie zu betreiben.197 Dieser Singularitätsanspruch des eigenen Standpunkts wird jeweils durch Strategien der Delegitimierung anderer philosophischer Positionen hergeleitet.

Zeitgenössische Philosophien kritisieren: Der in der Philosophie ausgeprägte (und sich auch in der vorliegenden Arbeit widerspiegelnde) »Parteienstreit«, der sich in der Nennung von Eigennamen äußert (Schnädelbach 1983: 120), ist für die Etablierung neuer Philosophien entscheidend: Philosophen positionieren dadurch ihre Erneuerungen im philosophischen Diskurs, wobei der eigentliche Auslöser dieser philosophieinternen Krisen hier in allen Fällen in anderen Wissensgebieten liegt. Durch diese diskursive (Über-)Setzung wird der hegemoniale Wissensanspruch der Philosophie etabliert und zugleich eskamotiert, dass die angesprochenen Gefährdungen der Philosophie als Wissenschaft auch ihre neuen Denkmöglichkeiten bedingen. Die unterschiedlichen Personifizierungen von Philosophien bzw. philosophischen Traditionen zeigen die Einschreibung der Autoren in den philosophischen Diskurs ihrer Zeit auf einer allgemeinen Ebene. In diskurstheoretischer Hinsicht werden hier Ähnlichkeiten des Wiener Kreises mit der Kritischen Theorie auffällig: In beiden Traditionen spielt die Kritik an der herkömmlichen und zeitgenössischen Philosophie eine zentrale Rolle, was in den dargestellten Querelen besonders prägnant zutage tritt.198 Dass Adorno – wie auch Carnap – seine Position gerade von der Ontologie Heideggers, dessen Philosophie in der Tradition der Phänomenologie steht, dezidiert abgrenzt, ist in diesem Zusammenhang zentral. Dieter Thomä stellt dazu fest: »Adornos Verhältnis zu Heidegger ist von radikaler Konkurrenz geprägt. Bekanntlich ist jede Konkurrenz dadurch gekennzeichnet, dass es den Beteiligten um das Selbe geht, damit aber eigene Absichten verfolgt werden« (Thomä 2006: 46).199 Wo die Erneuerungsansprüche des Wiener Kreises und der Kritischen Theorie wesentlich auf der Grundlage einer Kritik an der zeitgenössischen, als verfehlt betrachteten Philosophie begründet werden, begründet Husserl seinen Erneuerungsanspruch auf der Grundlage einer Kritik an der zeitgenössischen Wissenschaftslandschaft im Allgemeinen: Seiner Auslegung der Wissenschaften als einer in zwei Sphären getrennten Landschaft, in der die Philosophie als Bindeglied zu fungieren habe, liegt weniger eine Kritik an der Philosophie – seine Disziplinenkritik richtet sich auf die Psychologie – als eine Kritik an zeitgenössischen wissenschaftlichen und philosophischen Strömungen zugrunde. Im Wiener Kreis und in der Kritischen Theorie hingegen wird gegen die Philosophie und deren Tradition polemisiert, um genau dadurch, d.h. ex negativo, eine Position innerhalb dieser Tradition zu besetzen.

Neue Methoden entwickeln und anwenden: Der jeweilige Erneuerungsanspruch wird in jedem der drei Beispiele mit der Entwicklung einer neuen Methode vorgebracht. So ist die Wesensanalyse des Bewusstseins in Husserls Phänomenologie der einzig mögliche Weg, die Welt- und Lebensrätsel in ihrem Grund zu verstehen. Für die Vertreter des Wiener Kreises bildet die logische Analyse das Fundament, auf das jedes andere wissenschaftliche Wissen zurückgeführt werden kann. Und für Horkheimer und Adorno schließlich ist das kritische Verfahren (bei Adorno: die immanente Kritik) die einzig mögliche Weise, wie – angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts – überhaupt noch Philosophie betrieben werden kann und darf.200 Erst indem die Anwendungen dieser Methoden auf die Philosophie generell und auf zeitgenössische Philosophien im Besonderen plausibilisiert werden, kommt es zu einer Begründung neuer Positionen. Husserl möchte die aus seiner Sicht unhaltbare Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften überwinden und sieht dafür die phänomenologische Methode vor. Die Vertreter des Wiener Kreises streben die grundsätzliche Überwindung der Metaphysik an und finden in der Logik die geeignete Methode. Adorno schließlich wendet für seine Kritik am Positivismus und an der Ontologie die dialektische Methode auf diese beiden Positionen an. Erst durch die praktische Anwendung neuer Methoden auf andere Philosophien kann sich ein neues philosophisches Lehrgebäude im philosophischen Diskurs etablieren. Das heißt, alle untersuchten Philosophen begründen ihre Positionen prospektiv: Erst indem sie ihre neuen philosophischen Methoden (Phänomenologie, logische Analyse, immanente Kritik) auf andere zeitgenössische Positionen beziehen, werden neue philosophische Positionen erzeugt. Die Appelle in allen drei Beispielen lauten: Wenn mit der jeweiligen Methode bewiesen würde, dass streng wissenschaftliche Erkenntnisse möglich sind (Husserl), Metaphysik falsch ist (Wiener Kreis) oder dass Wahrheit zeitgebunden ist (Kritische Theorie), dann erst werde deutlich werden, dass die jeweils neue Philosophie den richtigen Weg weise.

Andere Wissenschaften miteinbeziehen: Die wissenschaftliche Gültigkeit der jeweiligen Erneuerung wird durch die gezielte Einbettung in den zeitgenössischen Wissenschaftskontext hergestellt. Erst durch die Aufnahme philosophieexternen Wissens werden Argumente generiert, mit denen neue philosophische Positionen wiederum philosophieintern begründet werden. Bei Husserl ist vorwiegend die Abgrenzung zur Psychologie, beim Wiener Kreis die Identifikation mit den Naturwissenschaften und bei der Kritischen Theorie die Kooperation mit den Sozialwissenschaften signifikant. Das ›Außen‹ (hier: andere Disziplinen) ist für die Herstellung des ›Innen‹ (der Philosophie) konstitutiv. Der Kontrast zu Seidel hat genau dies erkennbar gemacht: Seidel konstruiert kein ›Innen‹ der Philosophie, sondern breitet aus, was Philosophen für ihre Neupositionierungen aufgreifen, im Zuge ihrer Argumentationsstrategien aber gleichzeitig unsichtbar machen, nämlich die Durchlässigkeit der Grenzen, die ihre eigene Disziplin von anderen Disziplinen trennen: Die Philosophie generiert sich selbst aus Krisen, die von anderen Wissenschaften ausgelöst werden.201

Metaphysik überwinden: Das Thema einer Überwindung der Metaphysik ist in allen drei Erneuerungsansprüchen ein konstitutives Element. »Der revolutionäre Bruch mit der metaphysischen Denkweise beherrscht nahezu alle einflussreichen philosophischen Richtungen – Formen affirmativer Metaphysik spielen in der internationalen philosophischen Diskussion kaum eine Rolle mehr« (Braun 1992: 1). Während die Metaphysik von den Vertretern des Wiener Kreises als historisches und unwissenschaftliches Überbleibsel gewissermaßen ad acta gelegt wird, wird die Überwindung der traditionellen Metaphysik von Adorno als ein falsches Ziel dargestellt. Er wendet sich, wie gezeigt worden ist, sowohl gegen Carnap als auch gegen Heidegger, um ihnen ihren Kampf gegen die Metaphysik als ein falsches Bestreben vorzuwerfen. Dies verweist darauf, dass die Metaphysik in der Philosophie des 20. Jahrhunderts eine Art Scharnierbegriff ist, über den und mit dem Positionierungskämpfe ausgefochten werden: Mit den je neu entwickelten philosophischen Methoden – Phänomenologie, Logik und immanente Kritik – soll das überkommene metaphysische Denken überwunden oder neu beurteilt werden.202 Wie das Beispiel des Wiener Kreises anschaulich gezeigt hat, fungiert die Metaphysik dort als Chiffre für die Unwissenschaftlichkeit der Philosophie per se. Der Begriff der Metaphysik nimmt in allen drei Beispielen die Funktion ein, die Überwindungsbedürftigkeit zeitgenössischer Philosophien herauszustellen.

Wissenschaftlichkeit garantieren: Dass die Philosophie ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit keinesfalls aufgeben darf, ist in allen drei Beispielen, aber insbesondere bei Husserl, ein zentrales Motiv. Während Husserl die Philosophie mit dem Prinzip der Wissenschaftlichkeit gleichsetzt, möchten die Vertreter des Wiener Kreises diese Wissenschaftlichkeit dadurch garantiert wissen, dass sie die aus ihrer Sicht neuen philosophischen Grundlagen – die Logik – mit den Methoden der exakten Wissenschaften gleichsetzen. Horkheimer und Adorno wiederum sehen die Wissenschaftlichkeit der Philosophie dadurch gegeben, dass sie diese ausgehend von einer marxistischen Tradition mit sozialwissenschaftlichen Methoden verbinden.

Die Rolle der Philosophie insgesamt bestimmen: Husserl, die Vertreter des Wiener Kreises sowie Horkheimer und Adorno leiten ihre Neubestimmung der Philosophie von der Klärung von deren Rolle, Aufgaben und Funktionen her. Die Begründung des je neuen philosophischen Programms verläuft in allen Beispielen parallel zu einer Neudefinition der Philosophie im Allgemeinen. Die prinzipielle Unbestimmtheit und Vagheit des Begriffs Philosophie, die sich im Topos äußert, dass letztlich jeder Mensch ein Philosoph bzw. eine Philosophin sei, ist für Versuche der Neupositionierung konstitutiv. Der Begriff der Philosophie kann in diesem Zusammenhang als ein Signifikant verstanden werden, dem viele unterschiedliche Signifikate entsprechen. Während bei Husserl und im Wiener Kreis in je unterschiedlicher Weise die Rolle der Philosophie als erkenntnistheoretisches Fundament der Wissenschaften argumentativ rehabilitiert wird, erneuert die Kritische Theorie die Rolle der Philosophie als Korrektiv für die Wissenschaften und die einzelwissenschaftlichen Wahrheitsansprüche im Allgemeinen. Alle Autoren bestimmen ihr jeweiliges Philosophieverständnis zwar explizit und emphatisch als neu und originär, rekurrieren jedoch in je unterschiedlicher Weise auf die philosophische Tradition, damit dieses Verständnis plausibilisiert und legitimiert wird.

Die Philosophie als Leitwissenschaft rehabilitieren: Sowohl Husserl als auch die Vertreter des Wiener Kreises sowie Horkheimer und Adorno transferieren das traditionelle Selbstverständnis der Philosophie als Leitwissenschaft in aktuelle Kontexte. Während bei Husserl und dem Wiener Kreis die Rehabilitierung der Philosophie als Fundament aller Wissenschaften fokussiert wird, ist bei der Kritischen Theorie eine Rehabilitierung der Philosophie als Korrektiv für die Wissenschaften maßgeblich. Husserl identifiziert seine Position explizit mit der tradierten Vorstellung, wonach die Philosophie »tiefer blicken« könne als andere Wissenschaften. Die Philosophie sei die Wissenschaft, die »uns die Welt- und Lebensrätsel enthüllen soll« (Husserl 1910/11: 336). Er sieht gewissermaßen kein Problem darin, der Philosophie diese Sonderrolle zuzusprechen. Die Vertreter des Wiener Kreises hingegen problematisieren dieses Selbstverständnis. Sie nehmen es zwar zum Ausgangspunkt ihres Erneuerungsanspruches, aber nur, um es als einen Anspruch, den die Philosophie erheben könnte, zurückzuweisen. Da sie jedoch eine neue, aus den exakten Wissenschaften extrahierte Methode als Grundlage aller Wissenschaften konzipieren und in die Philosophie hineintragen, wird hier – in noch viel stärkerem Ausmaß als in den anderen zwei Beispielen – die Philosophie als »Alpha und Omega aller wissenschaftlichen Erkenntnis« (Schlick 1930/31: 8) rehabilitiert. Am Beispiel des Wiener Kreises wird besonders deutlich, dass die ›Re-Definierung‹ des Begriffes Philosophie für philosophische Erneuerungen grundlegend ist: Die Vertreter des Wiener Kreises lehnen den herkömmlichen Begriff der Philosophie mit der Begründung ab, er enthalte gänzlich falsche Implikationen, um ihn unter den Vorzeichen der Logik dann doch wieder neu zu besetzen. In Horkheimers und Adornos Erneuerungsanspruch wiederum ist die Sachlage komplizierter: Auf der einen Seite formuliert Adorno eine klare Absage an die Philosophie als eine Wissenschaft, die ›über‹ oder ›unter‹ den anderen Wissenschaften stünde. Diese Absage ist gewissermaßen Teil seines eigenen Programms: Da Philosophie gemäß Adorno nur noch als Kritik, d.h. negativ fungieren kann, wird ihr Selbstbild als Königin der Wissenschaften abgelehnt. Auf der anderen Seite spricht er der neuen, nun kritischen Philosophie das spezifische Vermögen zu, »eben jener Gestalt geistiger Freiheit« zu helfen, »die in den herrschenden philosophischen Richtungen keine Stelle hat« (Adorno 1977 [1962]: 468). Ähnlich wie im Wiener Kreis und bei Husserl wird auch hier – über den Umweg der Negation – das Selbstbild der Philosophie als jener Wissenschaft verteidigt, die als Korrektiv für die anderen Wissenschaften fungieren darf und soll.

Die Philosophie mit Kritik gleichsetzen: In allen drei Beispielen wird der Philosophie nicht nur die Aufgabe zugewiesen, Kritik zu betreiben, sondern sie wird in je unterschiedlicher Weise mit Kritik gleichgesetzt. In der Argumentation der Kritischen Theorie ist dies erklärtermaßen Bestandteil: Der Philosophie könne nur noch eine kritische Funktion zukommen. In der Argumentation des Wiener Kreises erfolgt diese Gleichsetzung über die Bestimmung der Philosophie als logischer Analyse, der wiederum das Vermögen zukomme, alle wissenschaftlichen Unwahrheiten auszuräumen. Bei Husserl ist die definitorische Gleichsetzung der Philosophie mit Kritik – ähnlich wie in der Kritischen Theorie – ebenfalls programmatisch: Ohne Philosophie verliere die Wissenschaft ihr eigentliches und kritisches Prinzip.

Die Philosophie als Heilmittel bestimmen: Im Zusammenhang mit den Bestimmungen der Philosophie als Kritik wird ihr in allen drei Beispielen das Vermögen zugesprochen, auf Krisen inner- und außerhalb der Wissenschaften reagieren zu können: Sie wird jeweils als »Heilmittel« (Husserl) für die Misere in den Wissenschaften, für die Unwissenschaftlichkeit der traditionellen Philosophie oder für eine desolat bis unerträglich gewordene gesellschaftliche Gegenwart insgesamt in Stellung gebracht.

Den philosophischen Geltungsbereich stabilisieren: Es können Aktualisierungen des tradierten Topos, dass die Philosophie im Unterschied zu den Einzelwissenschaften das »Ganze« zu ihrem Gegenstand habe, beobachtet werden: Zunächst aktualisieren alle Autoren in ihren Rückgriffen auf die philosophische Tradition je spezifische Aspekte des philosophischen Selbstverständnisses: Husserl fokussiert die Wissenschaftlichkeit, die Vertreter des Wiener Kreises den Anspruch auf Letztgültigkeit von Erkenntnissen sowie Horkheimer und Adorno schließlich das kritische Potenzial von Philosophie. In jedem der drei Erneuerungsansprüche ist folglich eine spezifische Eingrenzung des philosophisch Relevanten sichtbar geworden: Wo Husserl das Bewusstsein als den philosophisch entscheidenden Bereich konturiert, definieren die Vertreter des Wiener Kreises die Sprache und die Wissenschaft als die für die Philosophie zentralen Gebiete. Horkheimer und Adorno wiederum konfigurieren die Gesellschaft als denjenigen Bereich, in dem sich die Philosophie zu bewegen habe. Paradoxerweise erzeugen diese Eingrenzungen argumentativ zugleich eine schier unendliche Ausdehnung philosophischer Anwendungsbereiche. Das »Sein«, die »Sprache« und die »Gesellschaft« (Schnädelbach 1992: 309) sind Themen, die – pointiert gesagt – beinahe das gesamte Spektrum der Wissenschaft abdecken. Keine andere Wissenschaft, so kann geschlussfolgert werden, dehnt den Raum ihrer Expertise so weit aus wie die Philosophie: Sie kann, soll und darf über alles sprechen.

An der Wahrheit festhalten: Die Wahrheit wird in allen drei Beispielen nicht im Rahmen eines abgeschlossenen philosophischen ›Systems‹, sondern innerhalb des Rahmens der Wissenschaften beansprucht. Dass an der Wahrheit festgehalten werden muss, wenn Philosophie und Wissenschaft weiterhin Gültigkeit beanspruchen wollen, wird von jedem der untersuchten Philosophen durch ihre je unterschiedlichen Argumentationsstrategien verteidigt. Während Husserl und Adorno explizit betonen, dass an der wissenschaftlichen Wahrheit als einer überzeitlichen Idee festgehalten werden muss (Husserl), auch wenn man sie möglicherweise nie finden wird (Adorno), liegt die wissenschaftliche Wahrheit für den Wiener Kreis in logischen Prämissen. Die hier durchgeführten Untersuchungen legen nahe, dieses Festhalten an der Möglichkeit von Wahrheit als zwingendes Kriterium philosophisch-wissenschaftlicher Tätigkeit zu verstehen. Die Analysen verweisen jedoch darauf, dass es gänzlich unterschiedliche Weisen gibt, an der Wahrheit festzuhalten: Während die Möglichkeit philosophischer Wahrheit im Wiener Kreis und bei Husserl eher implizit, d.h. als Voraussetzung, eine Rolle spielt, wird sie von der Kritischen Theorie explizit aufgenommen und zu einem zentralen Thema für die Philosophie selbst konfiguriert.

Setzungen vornehmen – Philosophieverständnis als Ausgangspunkt: Es werden spezifische, nicht weiter begründete Setzungen sichtbar. Dass das Prinzip der Wissenschaftlichkeit der Philosophie immanent ist, ist für Husserl klar. Dass Wissenschaft – und damit auch die Philosophie – objektiv und universal ist, ist für die Mitglieder des Wiener Kreises gesetzt. Und dass Philosophie nur noch negativ, d.h. als Kritik, möglich und sinnvoll ist, ist für Horkheimer und Adorno unbestritten. Die Philosophen beanspruchen für sich innerhalb ihrer eigenen Bezugsrahmen letztgültige Wahrheiten, die sie an anderen Positionen kritisieren. Diese Wahrheiten wiederum sind mit der Bestimmung dessen, was Philosophie ist, eng verbunden. Die Analysen zeigen, dass Setzungen, die in der Philosophie vorgenommen werden und vorgenommen werden müssen, über das jeweilige Philosophieverständnis verlaufen. Letztlich wird in allen Beispielen der Anspruch sichtbar, mit der nun neuen Position die wahre, zeitgemäße Philosophie gefunden zu haben. Die argumentative Entwicklung einer neuen philosophischen Position, so legen es die Analysen in diesem Buch nahe, geht damit einher, das jeweils eigene Philosophieverständnis als einzig richtiges zu behaupten und es vermittels gezielter, trag- und anschlussfähiger Strategien im Wissenschaftskontext zu positionieren. Um philosophische Positionen im Wissenschaftskontext verteidigen und legitimieren zu können, so folgt daraus, gelangen Denkbewegungen dort an eine Grenze, wo es um die Reflexion der eigenen Setzungen geht. Dessen ungeachtet, wie reflektiert philosophische Positionen auch anmuten, blinde Flecken bleiben immer. Denn wie der nächste Abschnitt deutlich macht, folgen aus den Singularitätsansprüchen Positionen, die reflexiv nicht erfasst werden können.

Sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen

Die untersuchten Philosophen treten alle mit einem klaren Verständnis dessen auf, was Philosophie ist und vor allem: was sie in der Gegenwart und zukünftig sein soll. Durch gezielte Argumente begründen sie, warum ihr Verständnis das richtige ist. Seidel hingegen, so ist deutlich geworden, legt offen, wie sehr er mit der Frage ringt, was Philosophie (oder auch: Denken, Wahrheit, Wissenschaft, Objektivität, Metaphysik etc.) überhaupt ist oder sein soll. Sein »Wahrheitssadismus« (Seidel 1927: 212) hindert ihn daran, vor seinen eigenen Überzeugungen Halt zu machen. Aus dem Anspruch, seine eigenen Setzungen analytisch zu durchdenken, folgt der endlose Regress, an dem ex negativo deutlich wird, wo und wie Philosophen – ihrer disziplininternen Logik folgend – blinde Flecken produzieren: Sie schließen die Reflexion der eigenen Setzungen aus und perpetuieren dadurch Dynamiken, die die Spiegelung der Philosophie auf sich selbst unmöglich machen. Gleichzeitig wiederum – auch dies macht die Kontrastfolie Seidel deutlich – erneuern sie diese Dynamiken gerade aufgrund der Spiegelungen aus anderen Disziplinen. Die Spiegelung der Philosophie auf sich selbst durch andere Disziplinen evoziert Positionen, die sich reflexiv nicht erfassen oder einholen lassen.203

Diese Gedankenfigur wurde von der Philosophin und Wissenschaftsforscherin Donna Haraway in den 1980er-Jahren als »god trick« bezeichnet. Es handele sich dabei um eine Perspektive, die vorgibt, gleichzeitig alles von nirgendwo und überall aus sehen zu können. »The god trick is self-identical, and we have mistaken that for creativity and knowledge, omniscience even« (Haraway 1988: 587). Der selbstidentische Blick, so impliziert Haraway, erzeugt die Vorstellung von Objektivität bzw. die Vorstellung eines allgemeingültigen und universalen Blicks.204 Das Pendant zu dieser Totalisierung des Blicks sei der Relativismus. »Relativism is the perfect mirror twin of totalization in the ideologies of objectivity; both deny the stakes in location, embodiment, and partial perspective, both make it impossible to see well. Relativism and totalization are both ›god tricks‹ promising vision from everywhere and nowhere equally and fully, common myths in rhetorics surrounding science« (ebd.: 584).

Die Kontrastierung von Seidel mit Husserl, den Vertretern des Wiener Kreises sowie Horkheimer und Adorno hat es ermöglicht, die Prozesse nachzuzeichnen, mit denen Philosophen diesen Dualismus zwischen totaler Objektivität auf der einen und totalem Relativismus auf der anderen Seite reaktivieren. Die besprochenen Philosophen erklären zunächst alle Erkenntnis für fallibel, für relativ, für standortgebunden, für kontingent und vergänglich. Indem sie das Relative so totalisieren, schaffen sie zugleich die Grundlage für den einen und einzigen Punkt, an dem sich doch noch letzte Gewissheiten einstellen: das intentionale Bewusstsein bei Husserl, die logische Methode beim Wiener Kreis und die unausweichliche Kritik bei Adorno.

Indem sie ihre eigenen Setzungen von der Reflexion ausnehmen, machen sie – mit Haraway gesprochen – einen »leap out of the marked body […] into a conquering gaze from nowhere« (ebd.: 581). Dieser erobernde Blick der Allwissenheit sei »the gaze that mythically inscribes all the marked bodies, that makes the unmarked category claim the power to see and not be seen, to represent while escaping representation. This gaze signifies the unmarked positions of Man and White […]« (ebd.). Haraway transferiert mit ihrer Gedankenfigur des unsichtbar Allsehenden also die Tatsache, dass die kanonisierte Wissenschaft und Philosophie eine von europäischen Männern repräsentierte Geschichte ist, auf eine erkenntnistheoretische Ebene: Die Vorstellung von totaler Objektivität oder Relativität sei intrinsisch mit einer in der traditionellen Philosophie und Wissenschaft unmarkierten Position verknüpft. »The Western eye has fundamentally been a wandering eye, a traveling lens. These peregrinations have often been violent and insistent on having mirrors for a conquering self – but not always« (ebd.: 586). In gewissem Sinne dreht Haraway einen Topos der abendländischen Philosophie argumentativ um: »Knowledge from the point of view of the unmarked is truly fantastic, distorted, and irrational. The only position from which objectivity could not possibly be practiced and honored is the standpoint of the master, the Man, the One God, whose Eye produces and appropriates, and orders all difference« (ebd.: 587). Objektivität, so Haraway, entstehe aus einer verorteten, situierten und partialen Perspektive und nicht aus einem selbstidentischen Standpunkt: »The moral is simple: only partial perspective promises objective vision« (ebd.: 583). Demgegenüber wird in allen drei Neupositionierungen – Phänomenologie, Positivismus und Kritische Theorie – in je unterschiedlicher Weise ein ›schwebender Thron‹ konstruiert, von dem aus sich das Geschehen überblicken oder bewerten lässt. Haraway verweist auf die Problematik, die damit einhergeht: Der Anspruch, einen Überblick zu gewinnen, ist mit dem Verlust von Perspektiven verbunden. Wer alles sieht, sieht nichts Bestimmtes.

Die Konfrontation der Selbstpositionierungsstrategien von Husserl, den Vertretern des Wiener Kreises sowie von Horkheimer und Adorno mit Haraways Perspektive legt also nahe, dass philosophische Erneuerungen im 20. Jahrhundert Denkweisen reproduzieren, die – im feministisch-postkolonialen Jargon gesprochen – mit kolonialen und patriarchalen Dynamiken zusammenspielen. Es werden vorgeblich frei schwebende, nicht situierte Wissensstandpunkte erzeugt, die jedoch keineswegs frei und schwebend sind, sondern auf spezifische Positionen und ›Blickrichtungen‹ zurückgebunden werden können. Wie genau diese Vorgänge funktionieren und wirken, müsste in weiteren Untersuchungen an konkreten Materialien erforscht werden. Die hier durchgeführten Analysen zeigen jedoch einen möglichen Weg auf, der mit nachfolgenden Studien gegangen werden könnte: Es wäre interessant, zu untersuchen, welche Wissensaspekte Philosophinnen und Philosophen mit welchen Argumenten im Namen ihrer eigenen Position ausklammern. Das heißt, dass zusätzlich zu den in dieser Arbeit untersuchten Strategien der Verbindungen, Identifikationen und Kooperationen solche der Ignoranz oder Invisibilisierung in den Blick kommen müssten. Wo hier anhand eines heuristischen Modells die Frage fokussiert wurde, wie Philosophen ihre Disziplin durch die Aufnahme der Herausforderungen aus anderen Wissenschaften aktualisieren, müsste die daran anschließende Frage lauten: Welches Wissen wird aus welchen Gründen aus der Philosophie ausgelagert, verdrängt oder verkannt? Eine solche Untersuchung müsste – so legen es die Analysen nahe – dort lokalisiert werden, wo Philosophen und Philosophinnen zu denken beginnen: in der Verbalisierung ihres Philosophieverständnisses.205

Im Unterschied zu den hier betrachteten philosophischen Positionen hat Seidel nicht die Frage umgetrieben, was Philosophie ist und was sie sein soll, sondern die Frage, durch welche »Ideologien« seine Gegenwart und seine eigenen Analysen bestimmt sind. Es macht den Anschein, dass er dadurch mit der Begründung seines Denkens und seiner Position ringt. »Wie kann man an dem eigenen Schopfe sich selbst aus dem Sumpfe ziehen, ohne dabei, immer natürlich nach physikalischen Gesetzen, auch wieder hinein zu rutschen[?]« (Seidel 1927: 212). Diese Metapher ist vermutlich an eine der Lügengeschichten angelehnt, die dem Baron Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen zugeschrieben werden und vielfach literarisch ausformuliert worden sind. Im philosophischen Zusammenhang wirft die Anekdote, wonach der Baron samt seinem Pferd im Sumpf umgekommen wäre, wenn er sich nicht selbst am eigenen Haarschopf aus dem Morast gezogen hätte, die Frage nach Letztbegründungen auf.206 Sie wird auch von Adorno aufgenommen: »Vom Denkenden heute wird nicht weniger verlangt, als daß er in jedem Augenblick in den Sachen und außer den Sachen sein soll – der Gestus Münchhausens, der sich an dem Zopf aus dem Sumpf zieht, wird zum Schema einer jeden Erkenntnis, die mehr sein will als entweder Feststellung oder Entwurf« (Adorno 2001 [1951]: 130).207 Adorno, so kann gefolgert werden, geht mit dem Problem der Begründung der eigenen Position insofern um, dass er es affirmativ auflöst: Die eigene Position müsse – durchaus paradox – letztlich mit der eigenen Position begründet werden. Erst dadurch entstünden Erkenntnisse, die weder lediglich deskriptiv noch tentativ sind. »Und dann kommen noch die angestellten Philosophen und machen uns zum Vorwurf, daß wir keinen festen Standpunkt hätten« (ebd.).208 Während Adorno eine standpunktlose Philosophie zumindest für möglich hält, scheint es Seidel nicht möglich zu sein, dieses erkenntnistheoretische Paradox als Ausgangspunkt seines Denkens gelten und stehen zu lassen. Indem er seine eigenen Wahrheitsansprüche gnadenlos seziert, rutscht er – so jedenfalls impliziert es der Duktus seines Textes – immer wieder in den Sumpf unendlicher Wissensperspektiven, d.h. angestrebter, aber nicht zu erfüllender Letztbegründungen, ab. Sein Text verdeutlicht dadurch die Aporie des Dualismus zwischen totaler Objektivität und totalem Relativismus in aller Vehemenz. Husserl, die Vertreter des Wiener Kreises sowie Horkheimer und Adorno hingegen ziehen sich selbst insofern aus dem Sumpf, als dass sie die Frage nach der Legitimität ihrer eigenen Wahrheitsansprüche zugunsten einer Erneuerung ihrer Disziplin gar nicht erst aufkommen lassen. Sie verteidigen je im Auftrag einer Wahrheit ihre Disziplin.

Seidel hat die Philosophie nicht explizit verteidigt. Er erzeugt jedoch – vielleicht gerade deswegen und vielleicht in noch stärkerem Ausmaß als die hier erwähnten Philosophen – eine spezifische Form der Wahrheit, die, wie im zweiten Kapitel ausgeführt, mit einem Anspruch nach Wahrhaftigkeit einhergeht. In der Rezeptionsgeschichte Seidels wird von diesem das Bild eines Menschen erzeugt, der explizit für die Wahrheit gelebt hat und gestorben ist. Diese Form der Wahrheit hat in der ›westlichen‹ Philosophie- und Kulturgeschichte eine lange Tradition. Wie weiter oben angesprochen, hat Foucault diese Form der Wahrheit in Abgrenzung zur »platonischen« als »kynische« Form der Wahrheit bezeichnet. Sie wird auch auf der Ebene von Seidels Analysen in aller Vehemenz sichtbar: Alle Lösungen konsequent ablehnend, selbst den Nihilismus nihilisierend, denkt Seidel Krisen gleichwohl als Wirklichkeiten, denen sich aber kein Konstrukt mehr entgegensetzen lässt. Insofern wird in Bewußtsein als Verhängnis die totale Affirmation des menschlichen Geistes als konsequente Absage sichtbar: Indem Seidel das Leiden und Scheitern an der akademischen Philosophie und an der Wissenschaft im Allgemeinen ausdrückt, drückt er gleichzeitig die Unzulänglichkeit, Unvollständigkeit und Brüchigkeit wissenschaftlicher und auch philosophischer Ansprüche aus.

Ein Dilemma, das bleibt

Wird die Anlage des vorliegenden Buches konsequent zu Ende gedacht, könnte die so unbefriedigende wie unrealistische Schlussfolgerung gezogen werden, dass Philosophinnen und Philosophen sich entweder für den »god’s trick« oder für die Selbsttötung zu entscheiden haben. Eine solche apodiktische und gleichzeitig traditionelle Schlussfolgerung wäre jedoch in genau jener Logik verortet, die in diesem Buch nun gerade hinterfragt worden ist: letztgültige Definitionen der Philosophie zu suchen. Das Ziel war, punktuell philosophieinterne Dynamiken offenzulegen und die Deutungsmacht, die der Philosophie inner- und außerhalb der Wissenschaften zukommt, kritisch zu untersuchen: einerseits, um besser zu verstehen, mit welchen Mechanismen philosophische und geisteswissenschaftliche Argumentationen Wirkungsmacht entfalten und bewahren, und andererseits, um innerhalb dieser Mechanismen Momente einzufangen, die darauf verweisen, dass nicht nur die Philosophie und ihre Geschichte, sondern alle, die sich damit auseinandersetzen, ganz spezifischen Denk- und Wahrheitstraditionen und damit auch Machtansprüchen verpflichtet sind.

Der Wahrheitsanspruch, der das vorliegende Buch angeleitet hat und der durch die Figur Seidel gewissermaßen manifest wird, ist einer Disziplinierung geschuldet, die ihrerseits als eine philosophische Neupositionierung verstanden werden kann: Ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurden vermehrt – eng verbunden mit den in dieser Arbeit behandelten Traditionen und insbesondere mit der Kritischen Theorie – Theorien und Denkweisen Bestandteil der akademischen Diskussion, die die Kritik an den Macht- und Wahrheitsansprüchen der kanonisierten Philosophie und in diesem Zusammenhang an einer anthropo- und androzentrischen Perspektive in den Fokus rückten.209 Philosophische Wahrheiten – so die These bzw. die bewusst vorgenommene Setzung – werden immer aus einem bestimmten Blickwinkel mit bestimmten Machtinteressen postuliert. Der Blick, der beansprucht, von nirgendwo und überall alles sehen zu können, wird durch die Forderung nach einem situierten und verorteten Blick verabschiedet. Gemäß dieser philosophischen Haltung gilt es, Widersprüche, Brüche und Unvollständigkeiten auszuhalten, statt sie in Ausrichtung auf eine übergeordnete Wahrheit auflösen zu wollen. Daraus folgt – Seidels bzw. Münchhausens Metapher aufnehmend –, dass der eigene Schopf gar nicht aus dem Sumpf gezogen werden muss bzw. soll.

Exemplarisch für diese Traditionslinie kann erneut Haraway zitiert werden: »We are humus, not Homo, not anthropos; we are compost, not posthuman« (Haraway 2016: 55). In ihrem kürzlich erschienenen Buch Staying with the Trouble schlägt sie konsequenterweise vor, sich in den Sumpf zu begeben, denn wir seien »beings of the mud more than the sky« (ebd.: 11). Analog dazu seien gute Darstellungen der Welt immer verortet und partial – das Ziel, so könnte Haraway paraphrasiert werden, ist nicht, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen, sondern den Sumpf, in dem man steckt, sichtbar zu machen, um ihn mit anderen teilen zu können (Haraway 1988: 586).210 Haraway verwendet dafür den Begriff der Positionierung: »Positioning is, therefore, the key practice in grounding knowledge organized around the imagery of vision, and much Western scientific and philosophic discourse is organized this way. Positioning implies responsibility for our enabling practices« (ebd.: 587). Dezidierte und offengelegte Selbstpositionierung ist für Haraway eine Möglichkeit, die Machtstrukturen, die der akademisch-philosophischen Wissensproduktion inhärent sind, zu konfrontieren, statt sie zu reproduzieren: Durch die Offenlegung und Situierung der eigenen wissenschaftlich-philosophischen Tätigkeit bekommt, so Haraway, der »conquering gaze from nowhere« (Haraway 1988: 581) eine konkrete und erfassbare Gestalt. Die Offenlegung jener Macht- und Wahrheitsverhältnisse, die den eigenen Blick formen und lenken, bedeutet für Haraway folglich einen gangbaren Weg, an den Instrumenten der Wissenschaft und Philosophie für eine weniger machtvoll organisierte Welt festzuhalten, obwohl und weil Wissenschaft und Philosophie an solchen Macht- und Herrschaftsstrukturen maßgeblich beteiligt sind.211 Haraway – sie wird hier stellvertretend auch für andere Autoren und Autorinnen zitiert – zeigt, ähnlich wie es am Beispiel der Kritischen Theorie deutlich geworden ist, einen Ausweg aus Seidels Problematik, wie der eigene Forschungsstandpunkt angesichts der Einsicht in die Machtstrukturen von Wissenschaft und Philosophie noch legitimierbar ist. Analog zu den in diesem Buch untersuchten Philosophen wird also auch bei Haraway eine Operationalisierung von Seidels Teufelskreis sichtbar. Objektiviert wird Seidels Hadern mit dem Gedanken, dass auch die eigenen Wahrheitsansprüche lediglich zeitgebundene Ideologien sind und somit an Gültigkeit verlieren. Wenn die eigene Positionierung transparent gemacht, wenn also die Situiertheit und Verortung des eigenen Wissensstandpunkts explizit offengelegt und die Alterität anderer Positionen anerkannt wird, ist – gemäß dieser Traditionslinie – wissenschaftliche Wahrheitsbehauptung legitim.

Das sich selbst reflektierende Bewusstsein jedoch ist in Bezug auf die eigene Positionierung begrenzt. Haraway begegnet dem Problem, indem sie diesen Gedanken offenlegt und als Teil einer neuen Programmatik versteht. Sie moniert, dass es mehr benötige als Selbstreflexion. »We are also bound to seek perspektive from those points of view, which can never be known in advance, that promise something quite extraordinary, that is, knowledge potent for constructing worlds less organized by axes of domination« (Haraway 1988: 585). Aus diesem Blickwinkel gesehen würde »the unmarked category […] really disappear – quite a difference from simply repeating a disappearing act« (ebd.). Visionen selbst sind in dieser Perspektive alles andere als frei von Macht. »Vision is always a question of the power to see – and perhaps of the violence implicit in our visualizing practices« (ebd.). Haraway legt offen, was Husserl, die Vertreter des Wiener Kreises und – in gänzlich anderer Weise – auch Horkheimer und Adorno unterschlagen, nämlich, dass der philosophische Forschungsblick immer an die jeweilige Person und dadurch an deren Stellung in der Wissenschaft, Gesellschaft und Welt generell gebunden ist. Das Stillschweigen ist kein Lapsus, sondern Teil einer philosophieinternen Logik, Positionen zu erzeugen, die sich selbst reflexiv nicht einholen lassen.

Es gilt, auch in und von der Philosophie anzuerkennen, dass Forschungsperspektiven interessegeleitet sind und mit Machtverhältnissen korrespondieren. Dem Wahrheits- und Objektivitätsgehalt von Philosophie und Wissenschaft tut dies keinen Abbruch. Im Gegenteil: Erst wenn deutlich gemacht wird, dass philosophische als auch wissenschaftliche Wahrheit ganz spezifische Formen von Wahrheiten (im Plural) enthalten, kann der Status von Philosophie und Wissenschaft geschützt werden.

Das vorliegende Buch ist somit mit einem Wahrheitsanspruch verbunden, der seit Mitte des letzten Jahrhunderts begonnen hat, die geistes- und sozialwissenschaftliche Wissensproduktion und vor allem die Kulturwissenschaften zu prägen:212 Transparenz in Bezug auf Wissensstandpunkte, so die Setzung, ist angesichts der Einsicht, dass Wissenschaft und Philosophie euro- und androzentristischen Strukturen unterworfen sind, notwendig geworden. Jedoch zu glauben, dass die Einlösung dieser Forderung Seidels Teufelskreis auflösen würde, wäre falsch. Eigene Setzungen können reflexiv nicht erfasst werden, da der oder die Forschende zwingend an sein bzw. ihr Bewusstsein gebunden ist. Wahrheitsansprüche können immer auch zum Verhängnis werden. Die Verluste der Außenperspektiven, die von Seidel so konsequent aufgezeigt werden, gilt es ernst zu nehmen und auszuhalten. »Gewöhnlich wird das, was ein Denker über seine philosophischen Voraussetzungen, seine Methode und vor allem sein Verhältnis zu andern Denkern urteilt, von ihm selbst am wenigsten richtig eingeschätzt« (Seidel 2008: 187–188). Es ist eine so simple wie folgenreiche Wahrheit: Ich bin bereits im Sumpf, wenn ich mich selbst herausziehen will. Mit anderen Worten, im Bewusstsein und in der Philosophie befinden wir uns immer schon in einer morastigen Umgebung. Und weil wir uns selbst nicht herausheben und die Topografie von oben betrachten können, ist die Strategie, dieses Dilemma nicht aufzulösen, die aktuell bedeutsamste. Sie bietet uns die existenzielle und politische - und damit auch philosophische - Möglichkeit, die Beschaffenheit des Sumpfes, in dem wir stecken, mit den Händen zu greifen.

197

Husserl argumentiert mit der aus seiner Sicht unzulässigen Trennung der Wissenschaften in einen natur- und einen geisteswissenschaftlichen Bereich – die einzig mögliche Instanz, die in dieser verfahrenen Situation als Vermittlung fungieren könne, sei die Philosophie in Form der Phänomenologie. Er impliziert, dass jede andere Philosophie überflüssig werden wird, wenn seine Forderung ›Zurück zu den Sachen selbst!‹ methodisch korrekt durchgeführt würde. Und die Vertreter des Wiener Kreises argumentieren mit den naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen, die von einer traditionell-metaphysischen Philosophie nicht mehr eingeholt werden könnten – deswegen benötige es einer auf naturwissenschaftlichen Modellen streng aufbauenden Philosophie. Die logische Analyse ersetze jede andere Weise des Philosophierens. Horkheimer und Adorno schließlich argumentieren mit dem Selbstzerstörungspotenzial der Vernunft: denn ebendieses hätten die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts sichtbar gemacht, und unter dieser Voraussetzung sei Philosophie nur noch in negativer Weise, d.h. als Kritik, zulässig. Das Verfahren der ›immanenten Kritik‹ mache genau dies deutlich.

198

Zum Verhältnis zwischen Adorno und Heidegger vgl. Thomä 2005. Es gebe nicht viele symmetrische Bezugnahmen auf beide Denker; eine unter ihnen stammt von Schnädelbach. Aufschlussreich ist der Hinweis Thomäs, dass Adornos Kritik an Heidegger bei diesem auf keinerlei Echo gestoßen sei. Überliefert sei nur Heideggers lakonische Bemerkung, dass er nichts von ihm (Adorno) gelesen habe. Thomä stellt fest, dass es »eher kurios« sei, einen Philosophen, zu dem man in Differenz steht, überhaupt gar nicht zu erwähnen (ebd.: 32). Bei Heidegger, so eine Folge daraus, könnte möglicherweise eine hier nicht herausgearbeitete Argumentationsstrategie sichtbar werden: die Strategie des Ignorierens.

199

Diese Absichten wurden im Zusammenhang mit den politischen Implikationen des Wiener Kreises angesprochen. Siehe das Unterkapitel »Eine politisch und wissenschaftlich neutrale Instanz« (S. 118–126).

200

Die Bestimmung der Philosophie als einer Tätigkeit scheint auch in aktuelleren Erneuerungen konstitutiv zu sein. Philosophie, so mutmaßt z.B. Foucault, werde verschwinden, »nicht aber die Art von »philosophische[n] Tätigkeiten, die in gewissen Bereichen ausgeübt werden können und die im allgemeinen darin bestehen, daß man die Gegenwart einer Kultur diagnostiziert« (Foucault 1974: 31). Die Diskursanalyse scheint sich inzwischen auch als philosophische Methode etabliert zu haben. Siehe dazu den Exkurs »Wahrheit und Macht« (S. 183–188).

201

Diese Einsicht markiert eine entscheidende Ergänzung zu der in der Einleitung zitierten Studie Kampfplatz endloser Streitigkeiten. Philosophierende, so schreibt Berthold, seien gezwungen, sich »auf dem ›Kampfplatz endloser Streitigkeiten‹ zu behaupten – und zwar mit Behauptungen, die die Pluralität und damit das Agonale des Philosophischen bezeugen, auch wo sie alles daran setzen, sie zu widerlegen« (Berthold 2011: 48). Dieser Befund wurde in den Analysen dieser Arbeit auf der Ebene von Argumentationsstrategien zwar bestätigt, allerdings ist deutlich geworden, dass der »Kampfplatz«, auf dem sich Philosophen und Philosophinnen bewegen, die Wissenschaftslandschaft im Allgemeinen ist.

202

Lucien Goldmann, der Lukács’ und Heideggers Denken in seinem Buch Lukács und Heidegger miteinander in Beziehung setzt, schreibt: »Wie Heidegger kündigt Lukács in diesem Vorwort [von Geschichte und Klassenbewußtsein] den totalen Bruch mit der traditionellen Wissenschaft und Metaphysik an. Er bezeichnet aber selbstverständlich die richtige Methode nicht als ontologisch und metaphysisch, sondern als dialektisch« (Goldmann 1975 [1973]: 99). In diesem Sinne geht es Adorno (hier verstanden als Lukács’ Nachfolger) und Heidegger (hier verstanden als Husserls Nachfolger) um das Gleiche wie den Vertretern des Wiener Kreises und Husserl, wenn auch – wie Thomä schreibt – mit anderen Absichten: um eine Überwindung der traditionellen Metaphysik.

203

Das Selbstverständnis der Philosophie als einer Wissenschaft, die sich selbst reflektiert, ist persistent. Michael Hampe z.B. beendet seine Buchbesprechung von Bertholds Kampfplatz endloser Streitigkeiten 2012 mit den Worten: »Weil sie [die Philosophie, MD] sich der historischen Bedrohtheit ihrer Gewissheiten bewusst ist, gibt es wohl keine ›behauptende‹ Tätigkeit, die der Philosophie an Reflektiertheit das Wasser reichen könnte« (Hampe 2012: 62).

204

Lorraine Daston und Peter Galison verorten die Entstehung des wissenschaftlichen Konzepts ›Objektivität‹ in der Mitte des 19. Jahrhunderts. »Objectivity the thing was as new as objectivity the word in the mid-nineteenth century« (Daston/Galison 2007: 34). Objektivität sei »the suppression of some aspects of the self, the countering of subjectivity« (ebd.: 36). Eine Kontrastierung der Objektivitätsverständnisse von Philosophen und Philosophinnen ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit Dastons und Galisons wissenschaftshistorischen Analysen wäre ein lohnenswertes Unterfangen.

205

Diese weiterführenden Fragen wären als Ergänzung zu Studien zu verstehen, die die Konstruktionsprozesse des männlichen und europäischen Subjekts in und an der Philosophie aufzeigen. Siehe Fn. 209.

206

Hans Albert hat in Bezug auf das Begründungsproblem das »Münchhausen-Trilemma« formuliert: Wenn man nach einem archimedischen Punkt der Erkenntnis sucht, d.h. für alles eine Begründung verlangt ist, habe man letztlich die Wahl zwischen drei Möglichkeiten: einem infiniten Regress, einem logischen Zirkel oder einem Abbruch des Verfahrens (Albert 1991: 15).

207

Ich danke Flurin Dummermuth für den Hinweis auf diese Textstelle.

208

Der Abschnitt ist mit »Zur Moral des Denkens« betitelt. »Die Moral des Denkens besteht darin, weder stur noch souverän, weder blind noch leer, weder atomistisch noch konsequent zu verfahren« (Adorno 2001 [1951]: 130). Insofern es Adorno hier um den Schutz des Besonderen vor der totalitären Gewalt des abstrakten Allgemeinen zu gehen scheint, führt die Textstelle in das Zentrum von Adornos Philosophie.

209

Luce Irigaray hat mit Speculum de l’autre femme (1974) in Bezug auf Geschlechteraspekte die wahrscheinlich einflussreichste Arbeit vorgelegt. Ihr falle »keine Feministin ein«, sagt Judith Butler – eine weitere prominente Autorin dieser Richtung –, »die die Philosophiegeschichte ähnlich aufmerksam, akribisch und kritisch gelesen und neu gelesen hat wie sie [Irigaray, MD]« (Butler 1997: 63). Weitere Beispiele: Beauvoir 1951 [1949]; Butler 1997 [1993]/2009 [2004]; Cavarero 1997 [1990]; Deuber-Mankowsky 2012; Fox Keller 1985; Fraser 1994; Harding 1986/1996; Hartsock 1983; Haslinger 2008; Hooks 2004; Lloyd 1984; Maihofer 1995; McClintock 1995; Purtschert 2006; Said 1979; Spivak 2008 [1988].

210

Zum Beispiel Haraway 1988: 579–580.

211

Es wäre ein lohnenswertes Unterfangen, auch Haraways Philosophie mit den in dieser Arbeit entwickelten Instrumenten zu untersuchen. Sie schreibt ihre Position explizit in aktuelle wissenschaftliche, politische, ökologische und gesellschaftliche Diskussionen ein, und es liegt nahe, zu vermuten, dass sie ihre Position ebenfalls in den hier vorgeschlagenen Mustern argumentativ begründet und legitimiert.

212

Dieser Erneuerungsanspruch ist vor allem feministischen, poststrukturalistischen, postkolonialen und wissenssoziologischen Perspektiven zuzurechnen.

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Im Auftrag der Wahrheit

Selbstpositionierungsstrategien der Philosophie im 20. Jahrhundert