Dass der ökonomisch-technische Fortschritt die irdischen Lebensgrundlagen bedroht, ist seit Mitte des letzten Jahrhunderts bekannt. Sozio-ökonomisches Handeln, das jeweils lokal erfolgt, zieht global ungleich verteilte Folgen nach sich, die das gedeihliche Zusammenleben auf der Erde insgesamt bedrohen und deren Gesamtheit hier als ökologische Krise bezeichnet wird. Dieser etwas in die Jahre gekommene Ausdruck scheint zur Kennzeichnung des gegenwärtigen Zeitalters immer noch treffender als Anthropozän oder der Verweis auf den Klimawandel, weil er einerseits die Dringlichkeit des Handelns angesichts potentiell irreversibler Schäden an den natürlichen Lebensgrundlagen betont und dabei andererseits weder dem soziologisch unhaltbaren Verweis auf eine nicht weiter differenzierte Menschheit als Verursacher dieser Schäden erliegt noch wie der Ausdruck Klimawandel bloß einen vordringlichen Teilaspekt der menschenverursachten Schädigung des Ökosystems Erde abdeckt.
In den vergangenen Jahrzehnten ist deutlich geworden, dass sich eine nachhaltige Umstellung unseres Naturverhältnisses angesichts der ökologischen Krise naturwissenschaftlich und instrumentell allein nicht wirksam motivieren lässt. Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes ist daher die Vermutung, dass sich die Auswüchse der ökonomisch-technischen Nutzung der irdischen Natur und die mit ihrer wissenschaftlichen Vergegenständlichung einhergehenden Verkürzungen nicht ohne Kultivierung eines spezifisch ästhetischen Naturverhältnisses einhegen lassen. Damit ist keine untätige Kontemplation gemeint. Vielmehr bilden unsere ästhetischen Naturverhältnisse nach Kant einen Zwischen-Raum, in dem natürliche Gegebenheiten und menschliche Tätigkeiten derart zusammenspielen können, dass ihre schöpferische Passung sinnlich-lustvoll erlebbar wird. Dichter wie Goethe und Hölderlin haben diese Perspektive poetisch vertieft, indem sie den Kulturprozess nicht einfach als menschliche Bemächtigung der Natur darstellen, sondern als tätige Verlängerung eines natürlichen Bildungsgeschehens, das untergründig an seine nicht-gemachten Vorgaben zurückgebunden bleibt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben insbesondere Benjamin und Adorno die unaufhebbare, jedoch allzu leicht verdrängte Verzahnung von Natur und Kultur und die bleibende Bedeutung ästhetischer Eigenschaften von Natur gegenüber ihrer Marginalisierung im Rahmen einer Ästhetik betont, die sich einseitig als „Philosophie der Kunst“ versteht.
Im Licht derartiger Überlegungen kann die gegenwärtige Aufgabe angesichts der ökologischen Krise weder einfach darin bestehen, unsere zivilisatorischen Ansprüche und Bedürfnisse asketisch zurückzufahren, noch darin, ein nachhaltiges Verhältnis zur Natur nur als Mittel zum Zweck menschlichen Überlebens auszubilden. Vielmehr geht es zugleich auch um ein schöpferisches und damit potentiell lustvolles Erkunden der Möglichkeiten kooperativen Zusammenspiels zwischen natürlich-irdischen Vorgaben und menschlichem Gestalten. Gefordert ist demnach weder ein schlichtes „Zurück zur Natur“ noch der „Schutz“ einer von uns abgesonderten „Umwelt“, sondern schöpferische Arbeit an unserem Naturverhältnis, in das wir von Haus aus als lebendige, wahrnehmende und fühlende Wesen einbezogen sind. Entsprechend gilt es nicht bloß, eine vermeintlich schon hinreichend bestimmte Wohnlichkeit der Erde für menschliches und nicht-menschliches Leben zu erhalten, sondern tiefer zu erkunden, welche Formen solche Wohnlichkeit annehmen kann.
Unsere ästhetischen Naturverhältnisse in diesem Zusammenhang eigens zu reflektieren, wie es der vorliegende Band unternimmt, muss weder heißen, die ökonomisch-politische Dimension unserer Beziehung zur irdischen Natur zu ignorieren, noch anzunehmen, ästhetische und gesellschaftliche Naturverhältnisse bestünden letztlich unabhängig voneinander. Es stellt vielmehr eine Voraussetzung dafür dar, nach den Wechselbeziehungen zwischen diesen Arten von Naturverhältnissen zu fragen. Letzteres ist jedoch nicht das Anliegen dieses Bandes, wenngleich entsprechende Bezüge in einzelnen Beiträgen anklingen.
Das in den vorstehenden Bemerkungen ganz grob umrissene Feld der Naturästhetik bildet offenbar nicht nur ein Thema philosophischer Besinnung, sondern zugleich einen von den Künsten im weiteren Sinne und den ihnen zugeordneten Reflexionsformen konkret erkundbaren Bereich. Aus diesem Grund scheint ein interdisziplinär angelegter Band besonders geeignet, Möglichkeiten und Grenzen einer Naturästhetik zu erforschen, die sich den Aufgaben der Gegenwart stellt.
Der vorliegende Band versammelt entsprechend Beiträge aus Philosophie, Literatur-, Kunst-, und Kulturwissenschaft sowie der Architektur- und Medientheorie. Er geht zurück auf einen Workshop für Promovierende und Postdocs, der vom 8.-10. 10. 2021 auf Grundlage einer Ausschreibung an der Universität Heidelberg abgehalten wurde1. Anliegen des Workshops war es, dem sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchs ein Forum für die intensive und unprätentiöse gemeinsame Denk- und Textarbeit am Problem einer zeitgemäßen Naturästhetik zu bieten. Das Ergebnis bestärkt mich darin, dass es nicht der letzte Workshop dieser Art gewesen sein wird.
Kevin Licht danke ich für organisatorische Unterstützung bei der Durchführung des Workshops. Michael Mieskes bin ich für den Coverentwurf dieses Bandes dankbar, der dessen Leitidee unscheinbar ins Bild setzt.
München im April 2022,
Christian Martin
Hinsichtlich der geschlechterspezifisch unausgewogenen Zusammensetzung der Beiträge dieses Bandes sei bemerkt, dass sich einige zum Workshop angemeldete Beiträgerinnen aufgrund anderweitiger Verpflichtungen letztlich nicht beteiligen konnten.